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„Wir brauchen Gestalter und Vorbilder“

Alumni des Studienkollegs diskutieren über Leadership an Schulen.

Wie leitet man heute eine Schule? Professorin Christin Tellisch von der Hochschule für angewandte Pädagogik in Berlin und Juniorprofessor Karim Fereidooni von der Ruhr-Uni Bochum, beide Alumni unseres Studienkollegs in Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung, über neue Kompetenzen, individuelle Haltung sowie Praxis- und Theorieanteile in der Ausbildung.

Interview: Marc Winkelmann

Frau Tellisch, Herr Fereidooni, wer von Führung spricht, meint häufig Unternehmen, Sportmannschaften oder das Militär. An die Schule denkt man erstmal nicht. Warum nicht?

Christin Tellisch: Ich finde nicht, dass der Leadership-Begriff nur an andere Bereiche gekoppelt ist. Vielleicht ist er im Schulsektor weniger präsent, aber er ist sehr relevant.

Karim Fereidooni: Die landläufige Annahme, dass Führung in der Bildung keine Rolle spielt, kommt vielleicht von dem falschen Glauben, dass Schule ein starrer Apparat mit verbeamteten Personen ist, die sich nicht leiten lassen. Aber Führung ist auch in der Schule gefragt – muss nur anders ablaufen als in der privaten Wirtschaft, weil Bildung ein öffentliches Gut ist und Schulen, zumindest staatliche, nicht profitorientiert sein sollten.

Was muss eine Schulleitung denn heute können?

Fereidooni: Die Ansprüche an Schulleitungen sind gestiegen. Sie sollten die Mitbeteiligung der übrigen Lehrkräfte an den Leitungsaufgaben moderieren und Verantwortung delegieren können sowie Interesse daran haben, was im Unterricht geschieht. Darüber hinaus sollten sie darlegen können, wie sie sich Schule in Zukunft vorstellen; Ich denke beispielsweise an den Umgang mit Digitalisierung. Zugenommen haben ebenso Transparenzanforderungen im Umgang mit Lehrkräften, Eltern und Schüler/innen.  

Tellisch: Ich halte drei weitere Punkte für wichtig. Erstens: Eine Schule zu leiten bedeutet,  eine professionelle Haltung zwischen Pädagogik und Management zu entwickeln. Die Einstellung, mit der ich morgens die Schule betrete, übertrage ich auf meine Kolleg/innen, und die übertragen sie auf die Schüler/innen. Sehe ich es also als Chance an, die Schule gestalten zu dürfen und nicht bloß ein Rädchen im Getriebe zu sein, verkörpere ich dies mit Authentizität und Wirkung. Zweitens: Kommunikation ist elementar. Wir wachsen mehr und mehr in Team- und Diskussionskulturen hinein. Die Probleme, die man täglich bewältigen muss, sind anspruchsvoll und heterogen, und gerade deshalb muss man mit den Kolleg/innen, den Schüler/innen und den Eltern immer die richtige Basis finden.

Und drittens?

Tellisch: Man sollte kreativ sein. Schule verändert sich permanent, und deshalb muss man Visionen haben, klare Ziele formulieren und schließlich die notwendigen Maßnahmen einleiten können. Dazu brauche ich Kreativität, denn die konventionellen Wege reichen oft nicht aus. Mut und Flexibilität für die Umsetzung.

Haltung zeigen, kommunikativ und kreativ sein – muss man das als Persönlichkeit bereits mitbringen oder kann man das lernen?

Tellisch: Grundkompetenzen muss man mitbringen. Aber Schule fordert und fördert einen ungemein. Vieles entsteht beim Machen, und dadurch wird man stärker. Gleichzeitig muss man sich immer wieder fragen, was einem schon gut und weniger gut gelingt und sich im Team weiterbilden. Dieses Denken, dass man da alleine durch muss, das ist Quatsch. Und funktioniert auch gar nicht mehr.

Wie intensiv bereitet die Uni auf Führungsaufgaben vor?

Tellisch: Meiner Erfahrungen nach geschieht das kaum. Und da muss sich Grundlegendes ändern, damit die jungen Leute in der Lage sind, den Unterricht nach ihrer Ausbildung mit Leben zu füllen. Das System der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist nett, erfüllt aber die heutigen komplexen Anforderungen von Schule nicht mehr.

Fereidooni: Hier sollten wir differenzieren: Die universitäre Ausbildung ist in jedem Fach hochgradig personalisiert. Wenn mein Forschungsschwerpunkt als Professor „Class Room Management“ ist, thematisiere ich das in meinen Vorlesungen stärker. Bei dem Themenfeld „Rassismuskritik“ betone ich diesen Aspekt. Trotzdem können Studierende früh mit Führung in Kontakt kommen. Bei Schulhospitationen oder Praktika etwa. Oder sie bringen sich als Tutor/innen oder Mentor/innen in Uni-Netzwerken ein. Studentische Vertretungen in Fachschaften müssen ebenfalls führen. Die universitäre Bildung der dazugehörigen Kompetenzen ist aber noch eine zarte Pflanze.

Tellisch: Sie sprechen zwei Punkte an, die ich kritisch sehe. Zum einen die personenbezogene Abhängigkeit des Lernens in der Universität. Die Ausbildung muss kompetenzbezogen sein. Was noch bedenklicher ist: Wie viel Kontakt haben Lehramtsstudierende mit der Praxis? Dieser Anteil ist so verschwindend gering, dass Pädagog/innen die so wichtige Reflexionskompetenz erst mit dem Referendariat entwickeln. Das ist zu spät.

Was sollte man ändern?

Tellisch: Ganz einfach gefragt: Warum gibt es kein duales Studium? Dann würden die Studierenden zwei oder drei Tage lang in der Schule sein und den Rest der Zeit an der Uni verbringen. So könnte man abgleichen, ob die Theorie im Alltag funktioniert.

Fereidooni: Da muss ich widersprechen. Lehrkräfte brauchen eine Verzahnung von Theorie und Praxis. Sie sollten nicht nur lernen, wie man in den unterschiedlichen Situationen praktisch handelt, sondern dies vor dem Hintergrund von Theorien nachvollziehbar begründen können. Ein übermäßiger Praxisanteil – ohne theoretische Einbettung – wäre kontraproduktiv. In meinem Referendariat habe ich einen Satz gehört, und diesen hören viele Novizen von älteren Lehrkräften: „Vergiss alles, was Du in der Uni gelernt hast – ich bringe Dir bei, was du brauchst, um ein guter Lehrer zu sein.“ Ich halte diesen Satz für wissenschaftsfeindlich.  

Tellisch: Das finde ich nicht. Die Praxis zeigt den Lehrkräften, dass sich ihr Beruf stark verändert hat und dass Referendare mitunter scheitern oder mit viel zusätzlicher Arbeit fit gemacht werden müssen. Universitäre Bildung muss sich öffnen und weiterentwickeln. Die Ausbildung kann nicht seit vielen Jahren die gleiche bleiben, nur mit etwas mehr Praxis. Wir brauchen starke Persönlichkeiten, Gestalter und Vorbilder, die wissenschaftliche Diskurse kennen, einordnen und transferieren können. Theorie-Praxis muss in das Studium, warum nicht dual?

Fereidooni: In den letzten Jahren ist der praktische Anteil der Ausbildungszeit bereits gestiegen. Aber wir sollten diese Phasen nicht überhöhen. Und: In Bochum haben wir einen konsekutiven Studiengang. Lehrämtler und Nicht-Lehrämtler lernen bis zum Bachelor dasselbe und die fachdidaktische Ausbildung beginnt erst im Master. Sollte man nach dem Bachelor merken, dass der Lehrberuf nichts für einen ist, kann problemlos in andere Felder gewechselt werden. Das war früher kaum möglich. Also: Praxisphasen ja, aber duales Studium auf gar keinen Fall. Lehrkräfte lernen an der Universität Dinge, die sie nicht eins zu eins anwenden können, und das ist gut so.

Wer führt eine Schule heute eigentlich – kann das noch von einer Lehrerin oder einem Lehrer allein geleistet werden?

Tellisch: Nein. Denkt man an inklusive Ganztagsschulen, brauchen wir ein transprofessionell agierendes Team. Natürlich muss es eine Repräsentanz nach außen durch eine Person geben. Aber die Leitung muss von einem starken Team übernommen werden. Und Teams braucht es auch in den Fachkonferenzen und Ausschüssen, je nachdem, wie die Schule strukturiert ist.

Sollten Schüler ein Mitspracherecht haben, wie die Führung aussieht? 

Fereidooni: Generell sollte die Schülervertretung oder die Schulkonferenz mitentscheiden, zum Beispiel, wenn neue Lehrwerke eingeführt werden. Demokratiebildung darf nicht nur Teil des Politikunterrichts sein. Das Problem besteht darin, dass Partizipation in einer hochgradig undemokratischen Institution wie der Schule schwierig ist. Häufig gilt das Senioritätsprinzip. Eltern und Lehrkräfte haben mehr zu sagen als die jüngeren Menschen.

In Schulen gibt es viele äußere Zwänge wie die Lehr- und Stundenpläne, die festgelegten Unterrichts- und Ferienzeiten, und längst nicht jede Schule kann sich ihre Schüler aussuchen. Wie groß sind die Möglichkeiten überhaupt, Führung zu gestalten?

Tellisch: Natürlich gibt es Vorgaben. Aber der Rahmenlehrplan wird immer kompetenzorientierter und bietet Spielräume für den Unterricht und die Schulleitung. Die Frage ist, ob man diese Räume als Gewinn oder als Belastung betrachtet und wie man sie gestaltet. Darin unterscheiden sich die Schulen ganz stark voneinander.

Ein Beispiel, bitte.

Tellisch: Nehmen wir den fächerverbindenden Unterricht, der vor ein paar Jahren in die Lehrpläne aufgenommen wurde. Jeder soll schauen, welcher Inhalt zu anderen Fächern in der Jahrgangsstufe passt. Wo kann man sinnvoll mit Kolleg/innen kooperieren? Wie lässt sich das organisieren und in Lernprozesse umsetzen? Einige Schulen und Lehrkräfte sind sehr aktiv, in manchen Schulen laufen sieben oder acht fächerverbindende Projekte pro Jahrgangsstufe. Es ist aber auch möglich, diese Vorgabe durch eine einzige Projektwoche zu erfüllen, wie man das schon immer gemacht hat: am Schuljahresende, wenn alle Noten bereits feststehen.

Nicht alle Lehrer wollen sich also die zusätzliche Mühe machen.

Tellisch: Erschwerend kommt hinzu, dass der Anteil von Seiten- und Quereinsteigern aufgrund des Lehrermangels deutlich größer geworden ist, zumindest in den Regionen, in denen ich tätig war. Und diese neuen Lehrer/innen haben nach ihrer dreimonatigen Ausbildung natürlich meist nicht die nötige Gestaltungskompetenz, Eine kontinuierliche Schulentwicklung wird da zu einer wahnsinnig großen Aufgabe.

Wird die Persönlichkeit der Lehrkräfte noch wichtiger?

Fereidooni: Sie war schon immer wichtig. Und es stimmt ja: Vieles kann man sich ein Stück weit antrainieren, aber nicht in Gänze lernen, wie emotionale Kompetenz etwa. Aber Lehrer sind letztlich auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Es gibt die Faulen, Intelligenten, Engagierten, Distanzierten …

… und wenn Schüler Pech haben, können sie nichts ändern. Anders als in anderen Bereichen der Gesellschaft.

Fereidooni: Wenn es um die Notengebung geht, stimme ich Ihnen zu. Die kann je nach Lehrkraft zum Teil über zwei oder drei Notenstufen hinweg für dieselbe Leistung variieren. Die Bewertungsmaßstäbe müssen vereinheitlicht werden. Andererseits glaube ich nicht, dass man sich seine Gesprächspartner außerhalb der Schule immer aussuchen kann. Da wird mit zweierlei Maß gemessen. Abgesehen davon: Lehrkräfte sind keine Diktatoren. Sie haben ein hohes Berufsethos. Und im Einzelfall kann man sich bei der Schulleitung oder Bezirksregierung beschweren.

Tellisch: Und im Falle von Schwierigkeiten hilft es nicht zu meckern, sondern Wege zu finden. An meiner Schule wurde eine Lehrerakademie gegründet, in der Lehrkräfte ohne vollständige pädagogische Ausbildung oder aus anderen Gründen gecoacht wurden. 

Wie funktioniert das in der Praxis?

Tellisch: In einer Unterrichtseinheit, die wöchentlich für die teilnehmenden Lehrkräfte geblockt ist, halten Kolleg/innen Inputs, sprechen Probleme an und gehen mit in den Unterricht, um Feedback zu geben. Es ist eine offene Atmosphäre des Austauschs. Jeder lernt voneinander. Die Grundlage lautet: Keiner ist perfekt. Wir sind auf dem Weg zum lebenslangen Lernen.

Wie haben Ihre Kollegen reagiert, wenn Sie Ihnen gesagt haben: Du musst nachsitzen?

Tellisch: Als Nachsitzen habe ich es natürlich nie bezeichnet und empfinde das auch nicht so. Der eine oder andere wird sich gedacht haben, dass es eine zusätzliche Belastung ist, was ja auch stimmt. Andererseits wurde die Akademie nicht als Strafe eingeführt, sondern als Chance. Damit die jungen Lehrer/innen ihren komplexen Alltag bewältigen oder andere angesichts der Digitalisierung neue Kompetenzen entwickeln können. Die Hoffnung ist, dass sie eine höhere Professionalität und größere Zufriedenheit erreichen und ihren Beruf noch gerne und lange machen können.

Herr Fereidooni, in der Wirtschaft sind solche Meetings, Workshops und Coachings bereits verbreitet. In der Schule auch?

Fereidooni: Das kann hochgradig produktiv sein und ich plädiere dafür, dass es flächendeckend angeboten wird. Noch sind wir aber weit davon entfernt, was auch an dem Zeitmangel liegt. In Nordrhein-Westfalen müssen Gymnasiallehrkräfte 25,5 Stunden pro Woche unterrichten und tauschen sich nur kurz in den Pausen aus. Mehr Möglichkeiten haben sie nicht.

Vielfach wird geklagt, dass die Verdichtung der Arbeitszeit immer nur zunimmt, etwa durch Verwaltungsaufgaben. Gibt es – bedingt durch gesellschaftlichen Fortschritt und Veränderungen – eigentlich auch Dinge in der Schule, die man mittlerweile weglassen könnte? Um so mehr Zeit zu gewinnen?

Fereidooni: Die gibt es bestimmt. Ich wüsste nur nicht, was man lassen könnte, ohne Dinge zu vernachlässigen. Als Zukunftsvorstellung wünsche ich mir, dass die Lehrer 15 Stunden pro Woche unterrichten. Dann hätten sie Zeit, um sich persönlich weiterzubilden, sich gegenseitig Feedback zu geben und ausgeruhter zu unterrichten.

Tellisch: Wenn man sich fragt, wer diese Vorgaben macht, muss man feststellen: Das sind auch nur Menschen. Mit diesen Menschen muss man ins Gespräch kommen, die muss man in die Realität holen und überlegen: Was ist an Verwaltungsaufgaben essentiell, damit Schule funktioniert und keiner zu Schaden kommt? Alles andere muss gestrichen werden. Damit würden wir Zeit sparen können.


Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum. Er bildet Politiklehrer/innen aus, forscht unter anderem zu Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Diversity Studies und Politische Bildung und ist Alumnus des Studienkollegs der Stiftung der Deutschen Wirtschaft.

Christin Tellisch ist Professorin für Schulpädagogik und allgemeine Didaktik an der Hochschule für angewandte Pädagogik in Berlin. Von 2013 bis 2019 leitete sie das Christliche Gymnasium Rudolf Stempel in Riesa in Sachsen – damals als jüngste Schulleiterin Deutschlands – und wurde mit ihrer Schule mehrfach ausgezeichnet. Sie ist Alumna des Studienkollegs der Stiftung der Deutschen Wirtschaft.


Karim Fereidooni, Foto: RUB, Marquard
Christin Tellisch, Foto: privat