Interview: Marc Winkelmann
Robin Fischer, Sie studieren in Braunschweig Mathematik und Philosophie. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn bis zur zehnten Klasse waren Sie auf einer Realschule. Wurden Sie dort auf die Uni vorbereitet?
Nein. Überhaupt gab es außer einem Ankreuztest der Agentur für Arbeit, der einem fünf angeblich passende Berufe aufzeigen sollte, fast keine berufliche Orientierung. Ich bin dem Test zufolge übrigens vor allem als Holzfäller geeignet (lacht).
Wussten Sie, was Sie stattdessen werden wollten?
Ich habe mir damals über das, was nach der Schule kommt, kaum Gedanken gemacht. Ich war faul, habe den Unterricht geschwänzt und bin fast sitzengeblieben.
Hatten Ihre Eltern einen Wunsch für Sie?
Es wurde nie ausgesprochen, war aber klar, dass ich in dem Stahlunternehmen meines Großvaters, in dem auch mein Vater gearbeitet hat, eine Ausbildung machen wollte. Leider erkrankte mein Großvater 2008 sehr schwer, wodurch unsere Familie die Firma verlor. Das hat dazu geführt, dass ich mir in der Schule mehr Mühe gab.
Ihre Noten wurden besser, weil Sie etwas anderes erreichen wollten?
Sie sind regelrecht explodiert. In der neunten Klasse war ich Klassen- und in der zehnten Jahrgangsbester. Später las ich Bücher von Helmut Schmidt, Biografien von Nelson Mandela und Ghandi und „Homo Faber“ von Max Frisch.
Wie haben Ihre Eltern auf den Wandel reagiert?
Sie fanden es gut, dass meine rebellische Phase vorbei war. Meinen Wunsch, aufs Gymnasium zu gehen, verstanden sie aber nicht und konnten sich nicht vorstellen, dass ich da richtig wäre. Mit 17 bin ich dann ausgezogen.
Wohin sind Sie gegangen?
In den ersten Wochen habe ich bei Freunden auf der Couch übernachtet. Danach konnte ich bei einer Familie, bei der ich Nachhilfe gab, sechs Monate im Keller wohnen. Anschließend habe ich eine Art Hartz IV bekommen, eine Wohnung plus 200 Euro. Das nannte sich Schüler-BAföG.
Es ist kaum möglich, von 200 Euro zu leben.
Während der Abizeit hatte ich deshalb noch einen zweiten Nebenjob. Am Wochenende war ich nachts Sicherheitsmann in einem Kaufhaus.
War Ihnen klar, welche Hilfen Sie bei welchem Amt beantragen konnten?
Das war mir nicht klar, und die Bürokratie in Deutschland macht es einem auch schwer. Ich war sehr auf mich gestellt. Ich wusste nicht mal, wie man Reis kocht oder Klamotten wäscht, geschweige denn, wie ich die 40-seitigen Anträge ausfüllen muss, in denen nach meinem Bar- und Kapitalvermögen gefragt wurde. Zum Glück hatte ich die Telefonnummer meiner Mentorin beim Studienkompass. Sie war die erste Person, die ich nach dem Krach zu Hause angerufen habe.
Wie sind Sie zum Studienkompass gekommen?
In der elften Klasse des Gymnasiums drückte mir meine damalige Klassenlehrerin einen Flyer des Programms in die Hand und empfahl mir, mich zu bewerben, weil es Menschen unterstützt, die aus ihrer Familie die ersten sind, die studieren wollen. Mir war vorher nicht bewusst, dass es nur sehr wenige Arbeiterkinder an die Universität schaffen. Der Studienkompass hat mich drei Jahre lang bei dem Übergang zum Studium beraten und mit anderen Schüler/innen, die in einer ähnlichen Situation waren wie ich, zusammengebracht. Das war sehr ermutigend für mich. Die Workshops haben mir geholfen, weil zum ersten Mal die richtigen Fragen gestellt wurden.
Welche Fragen waren das?
Ich erinnere mich an ein Wochenende, an dem es um die Frage „Wer bin ich?“ ging und wir in der Runde über Jobs sprachen, die uns Spaß machen könnten. Weil Volkswagen in Braunschweig sehr präsent ist und viele Freunde dort arbeiten wollten, kam auch mir das zuerst in den Sinn. Da verdient man gutes Geld und die Anstellung ist sicher, so dachte ich. Später auf meinem Zimmer merkte ich, dass das überhaupt nicht zu mir passt.
Ihre Studienkompass-Mentorin hat sie später auf ein Stipendium der Stiftung für Studienreisen hingewiesen und Sie sind in den Sommerferien nach Spanien gefahren. Warum?
In der Schule lief es zu dieser Zeit nicht, ich bekam nur Dreien und Vieren, ich ging auf Distanz zu meinen Freunden und wusste nicht weiter. Da erzählte sie mir von der Chance, 600 Euro für einen Monat zu bekommen. Ich denke, das ist gerade das Richtige für dich, sagte sie.
Bei der Bewerbung muss man vorab angeben, was man auf seiner Reise herausfinden will. Mit welchem Ziel sind Sie losgefahren?
Ich wollte in einem andalusischen Schweigekloster, einem Zisterzienserorden, erfahren, was man braucht, um glücklich zu sein. Ich war der Erste außerhalb des Klosters, der aufgenommen wurde. Es wäre naiv zu sagen, dass ich meinen Frieden gefunden habe. Die Anfangszeit war hart, ich war nicht mal in der Lage, zehn Minuten am Stück still zu sitzen. Aber ich bin ruhiger rausgekommen als ich reingegangen war.
Der Alltag im Kloster besteht aus Beten und Arbeiten für die Gemeinschaft. Welche Aufgabe hatten Sie?
Ich musste die Wäsche eines Krankenhauses in Cordoba waschen und zusammenlegen. Das hat mich richtig geschockt. Das erste Bettlaken, das ich aus dem Korb zog, war voller Blut und anderer Flecke. Ich denke heute noch manchmal daran, wie dieses Laken aussah.
Und in der Freizeit? Man kann ja nicht einfach den Fernseher anschalten oder im Netz mit Freunden chatten.
Das ist beides verboten. Gegen die Langeweile hatte ich einen alten MP3-Player mit vielen Songs mit. Dachte ich zumindest. Tatsächlich waren nur zwei abgespeichert. Einer davon: „Losing My Religion“ von R.E.M. Ich habe vor allem Tagebuch geführt und alle Fragen aus der Vergangenheit und zu meiner Zukunft aufgeschrieben. Es kam sehr viel hoch.
Durften Sie sich mit den Mönchen unterhalten?
Nach neun Tagen durchgehendem Schweigen stand Padre José am Tor und bedeutete mit seinem Kopf, dass ich ihm nach draußen folgen sollte. Wir sind zwei Stunden um das angrenzende Orangenfeld gegangen und dort konnte ich ihm alle Fragen stellen. Meine erste lautete: „Was macht Dich glücklich?“ Letztlich durfte ich mit sieben Mönchen sprechen.
Käme ein Leben im Kloster für Sie infrage?
Die Mönche haben den Grundsatz, dass man freier handeln kann, wenn man sich einschränkt. Ich habe viel darüber nachgedacht und kann das zum Teil nachvollziehen. Der Gedanke an meine Familie, Freunde und ein Leben in Freiheit ist mir aber weitaus wichtiger.
Nach Ihrer Reise haben Sie in einem 20-seitigen Aufsatz die Lebenswege der Mönche porträtiert und mit dem Text den Jean-Walter-Preis gewonnen. Die Verleihung fand im Schloss Salem statt, einem Internat für Schüler/innen mit sehr wohlhabenden Eltern. Größer hätte der Unterschied zu Ihrer Zeit im Kloster nicht sein können, oder?
Die Schüler*innen trugen Uniformen und ich habe zum ersten Mal ein Drei-Gänge-Menü gegessen. Ich wusste gar nicht, wie ich mit den ganzen Gabeln, Messern und Löffeln umgehen muss. Das Beste war aber etwas anderes.
Was denn?
Ich bekam 15 Minuten für eine Rede. Ich durfte in Salem also erzählen, wie das Leben ohne Konsum im Schweigekloster abläuft. Vor allen versammelten Gönner*innen der Schule.
Hat Ihnen der Besuch in Salem noch mal verdeutlicht, wie groß die Unterschiede im deutschen Bildungssystem sind?
Ich empfinde es nicht als ungerecht, dass es Menschen gibt, die sich keine Gedanken darüber machen müssen, ob sie ihre Miete im nächsten Monat zahlen können und welche Schule oder Uni sie besuchen. Andererseits trage ich diese Debatten inzwischen schon lange aus und häufig kommen von Wohlhabenderen die gleichen Argumente. Eins davon: Warum müssen Erstakademiker/innen besonders gefördert werden? Was erhofft man sich davon? Viele wissen nicht, dass nur wenige den Bildungsaufstieg schaffen und die soziale Herkunft entscheidend ist.
Studien kommen immer wieder zu diesem Schluss – an welchen Stellen spüren Sie das im Alltag?
Ich sehe vor allem die Verbindung zwischen BAföG und Wohnraum kritisch. Das ist ungerecht geregelt. Der derzeitige BAföG-Höchstsatz beträgt 672 Euro. Allein in Braunschweig, wo ich lebe, kostet eine günstige Einzimmerwohnung aber 350 Euro. Und von den restlichen 322 Euro muss man Bücher, Strom, Wasser, das Essen in der Mensa und alle anderen Ausgaben bezahlen.
Wie sieht es im Wohnheim aus: Können Studierende da günstiger leben?
Auch das ist ein Problem. Das BAföG wird nur verlängert, wenn man im vierten Semester 90 Leistungspunkte nachweisen kann. Nun gibt es aber Studiengänge, vor allem naturwissenschaftliche, bei denen es sehr schwer ist, so früh schon so viele Punkte zu erreichen. Und da Plätze im Wohnheim nur für jeweils zwei Jahre bewilligt werden, kann es passieren, dass man auf einen Schlag seine Ansprüche aufs BAföG und sein Zimmer verliert und vor dem Nichts steht.
BAföG-Empfänger/innen dürfen nur einmal den Studiengang wechseln. Setzt Sie das zusätzlich unter Druck?
Ja, denn spätestens die zweite Fächerwahl muss sitzen. Dabei sollte man als junger Mensch die Freiheit bekommen, sich ausprobieren zu können. Aber das geht nicht, wenn man auf Stipendien und Kredite angewiesen ist. Das ist für mich eine der größten Fragen: Wie finde ich einen Job, der mir finanzielle Stabilität verspricht? Irgendwann möchte ich in der Lage sein, mir keine Gedanken darüber machen zu müssen, ob ich den billigsten Käse für 1,29 oder den für 2,99 Euro nehme.
Im vergangenen Sommer haben Sie – wieder mit einem Stipendium – in Cambridge an einer Summer School zum Thema „Zukunft“ teilgenommen, bei der es um Fragen zur Umwelt und zum Klimawandel ging. Auch dort müssen die Unterschiede gravierend gewesen sein, Cambridge gehört zu den renommiertesten und teuersten Schulen.
Bei dieser Reise ist mir aufgefallen, wie leicht gewisse Dinge vorausgesetzt werden. Für meine Cambridge-Bewerbung musste ich ein C1-Niveau der englischen Sprache nachweisen. Was einem keiner sagt, ist, dass der sogenannte Toefl-Test 150 Euro kostet und das Buch für die Vorbereitung weitere 110 Euro. Dafür muss ich länger sparen. Das gilt auch für andere sogenannte Soft Skills.
Wie meinen Sie das?
Auf dem Gymnasium waren fünf Schüler/innen in meiner Klasse, die ganz selbstverständlich für längere Zeit im Ausland waren. Ich habe noch nicht mal einen Urlaub machen können, weil das Geld fehlte. Die Bücher, die andere gelesen haben, kannte ich nicht. Die Kleidung, die man tragen sollte, konnte ich mir ebenfalls nicht leisten. Und die Rhetorik, die einem in Gesprächen hilft, beherrschte ich ebenfalls nicht. Das muss ich alles nachholen, wenn ich eine Chance haben will.
Gleichen sich solche Unterschiede mit der Zeit aus oder sind die immer noch spürbar?
In Cambridge kam ich mir häufig ausgeschlossen vor. Wenn alle anderen in einem Club gefeiert haben, durfte ich nicht rein, weil ich keinen Bürgen hatte und keinen Clubpulli besaß. Negative Erfahrungen habe ich auch in Deutschland gemacht. Wenn mich Kommiliton/innen nach meinen Eltern fragten, haben sie mir anschließend die kalte Schulter gezeigt. In den ersten zwei Jahren an der Uni fühlte es sich an, als ob ich eine andere Welt betrat.
Sind an der Uni keine neuen Freundschaften entstanden?
Ich habe schon so viele Ebenen durchlaufen, trotzdem sind meine besten Freunde immer noch die Kumpels aus der Realschule. Ich will dennoch versuchen, noch mal nach Cambridge zu gehen.
Um dort einen Master zu machen?
Es wäre überheblich zu sagen, dass es klappt, auch weil es sehr teuer und anspruchsvoll ist. Aber im Sommer habe ich einen Professor kennengelernt, der mir eine Empfehlung schreibt und mein Stipendium deckt die Hälfte der Kosten ab. Die andere Hälfte versuche ich, durch Jobs zu finanzieren. Es wäre eine Riesenauszeichnung. Wie wahrscheinlich ist es denn, dass man als Realschüler seinen Master in Cambridge macht?
Was würden Ihre Eltern dazu sagen?
Für sie ist das immer noch eine Blackbox. Aber es war die richtige Entscheidung, trotz aller Hürden. Ich merke, dass ich glücklich bin mit dem, was ich jetzt mache. Der Studienkompass war eine entscheidende Hilfe – dort habe ich gelernt, meine Talente zu entdecken und an mich zu glauben.
Der Studienkompass
Unabhängig von der sozialen Herkunft sollte jeder Mensch die Möglichkeit haben, seine Talente zu entdecken und zu nutzen. Studien belegen jedoch, dass Kinder aus Familien ohne akademischen Hintergrund deutlich seltener studieren als Kinder aus Akademikerhaushalten. Der Studienkompass, eine Gemeinschaftsinitiative der Accenture-Stiftung, der Deutsche Bank Stiftung und der sdw sowie vieler weiterer Partner, fördert Jugendliche, die darüber nachdenken, als Erste in ihrer Familie zu studieren.