„Es ist Sonntagmorgen. Der Wecker läutet früh und die Zeitumstellung raubt uns eine Stunde Schlaf. Trotz der Müdigkeit machen wir uns auf den Weg zum Hauptbahnhof und reisen schließlich mit einer kleinen Gruppe sdw-Stipendiatinnen und -Stipendiaten nach Dachau. Dort treffen wir um 9.30 Uhr ein und warten auf die restlichen Teilnehmenden. Ein schneller Kaffee aus der Cafeteria und schon erscheint unser Guide, Antje Rosner. Die Inhalte, die Frau Rosner uns vermittelt hat, sind mir sehr präsent geblieben. Sie gab eine äußerst qualifizierte Führung und äußerte dabei auch persönliche Kritik an bestimmten Maßnahmen. Ich werde hier nicht Wort für Wort wiedergeben, was sie erzählt hat, sondern vielmehr die Aspekte hervorheben, die mich besonders überrascht haben.
Das Lager und seine Geschichte
Das Konzentrationslager Dachau existierte bereits seit 1931 und war eines der ersten Lager des NS-Regimes. Ein Graben teilte das Areal in zwei Hälften. Auf dem Luftbild erkennt man rechts das Konzentrationslager mit 34 Baracken, dem Wirtschaftsgebäude und dem dahinterliegenden, leicht versteckten, sogenannten Bunker – einem Gefängnisgebäude. Links von diesem Graben befand sich das SS-Ausbildungszentrum mit allen Einrichtungen für die dort stationierten 105.000 SS-Männer. In Dachau wurden zunächst politische Gegner, dann Juden, später Pfarrer und andere Minderheiten sowie viele polnische Gefangene inhaftiert. Insgesamt wurden etwa 200.000 Menschen dort gefangen gehalten, wobei die maximale Belegung bei 43.000 lag. Ursprünglich war das Lager nur für 5.000 bis 6.000 Menschen ausgelegt.
Die Architektur des Grauens
Die Architektur des Lagers verdeutlicht auf zynische Weise die Absurdität dieses Ortes. Ähnlich wie im KZ Mauthausen besitzen die Hauptgebäude Satteldächer und mittig platzierte Wachtürme, was an römische Castra und Kasernenbauten erinnert. Das Lager wurde am Reißbrett entworfen und lebte von der Replikation der Baracken. Diese waren aus leichten Materialien gebaut und enthielten stringente, hölzerne Bettgestelle mit jeweils 3 bis 4 inneren Zwischenräumen. Außerdem gab es ein Wirtschaftsgebäude, in das eine Großküche und Bäder integriert waren. Diese Einrichtungen wurden allerdings kaum bis gar nicht verwendet. Die Sauberkeit und Ordnung des Lagers, sprich die gute Instandhaltung der Gebäude, täuschte und vertuschte das eigentliche Leid der Insassen. Auch eine Buchenallee wurde gepflanzt, um nach außen hin einen gepflegten Eindruck des Arbeitslagers zu vermitteln. Dies war und ist und wird immer die größte Lüge der Menschheit bleiben.
Die grausame Realität alltäglichen Missbrauchs
Das KZ Dachau war ein Ort psychischen und körperlichen Missbrauchs, der Folter und des Todes. Die Liste der Strafen für die Insassen war endlos. Die SS-Männer hatten weitreichenden Spielraum, sich an den ausschließlich männlichen Häftlingen zu vergehen. Die Menschen starben nicht durch die am Rande des Konzentrationslagers befindlichen Gaskammern – diese wurden nämlich nie genutzt. Stattdessen starben sie durch Folter, bei der ihnen die zusammengebundenen Hände hinter dem Rücken aufgehängt wurden, durch willkürliche Erschießungen, durch Hunger, Erfrieren (die Baracken wurden nicht beheizt), Epidemien wie Typhus, mangelnde Hygiene, an zugefügten Verletzungen, an Malaria-Experimenten (das Virus wurde von Ärzten an den Insassen getestet) oder durch Suizid am elektrischen Stacheldrahtzaun. Häufig wurden diese Suizide jedoch vorgetäuscht, indem SS-Männer die Leichen der eigens Ermordeten entsprechend platzierten. Mindestens 41.000 Menschen starben in Dachau. Doch was geschah mit den Überlebenden? Sie hatten oft keine Familien mehr, kein Zuhause, und wurden nach ihrer Befreiung kaum unterstützt.
Das Lager nach 1945
Nach der Befreiung am 29. April 1945 nutzten die Amerikaner das Lager zunächst als Internierungslager für NS-Täter. In diesem Zusammenhang wurden alle Gebäude weiß gestrichen und man entfernte die Inneneinrichtung der Stehgefängniszellen im Bunkergebäude. Bis 1962 diente das Lager als Flüchtlingsunterkunft für Vertriebene. Die Baracken wurden kreativ umgenutzt und beherbergten Einrichtungen des täglichen Lebens wie Krankenstätten und Kindergärten. In den darauffolgenden Jahren klaffte eine große Aufklärungslücke in der deutschen Bevölkerung. Dass es heute eine Gedenkstätte gibt, ist einzig den Überlebenden zu verdanken. Mit der Gründung des „Comité International de Dachau“ (CID) eröffneten sie 1965 die Gedenkstätte. Drei Jahre zuvor wurden jedoch alle historischen Baracken abgerissen. Und ich frage mich wieso. War dies Teil einer Kultur des Vergessens?
Die Bedeutung einer Erinnerungsarchitektur
Können wir das Grauen der Geschichte so ohne Weiteres nachvollziehen, wenn die gebaute Umwelt kein Zeugnis mehr ablegen kann, weil sie destruiert worden ist? Haben wir genügend Vorstellungskraft, um uns das Grauen in jenem Ausmaße eigens vor Augen zu führen? Ich hoffe nicht. Deshalb sollte es unser Anliegen sein, Orte des Schreckens wahrheitsgetreu und historisch zu bewahren, um ihre Geschichte nicht zu verfälschen. Die heute dort stehenden zwei Baracken sind Nachbauten und es wird diskutiert, ob sie renoviert werden sollen. Ist das der richtige Ansatz? Oder verfälscht man damit die historische Realität weiter?
Dies war eine kleine räumliche Analyse des Konzentrationslagers Dachau. Man könnte meinen, derartige Lagerstrukturen existieren heute nicht mehr. Das ist bei genauerem Blick auf die Architektur von Flüchtlingslagern weltweit oder geplanten „detention camps“ außerhalb der EU-Grenzen leider falsch. Campstrukturen haben immer in erster Linie den Freiheitsentzug des inhaftierten Menschen vor Augen. Ein Mensch ohne Rechte. Ein staatenloser Mensch. Wer sich weiter für das Thema „Macht und Raum“ interessiert, dem seien Giorgio Agambens „Homo Sacer“ und Achille Mbembes „Necropolitics“ empfohlen. Im Gedenkstättenshop habe ich Hannah Arendts Essay „We Refugees“ erworben und am Abend Viktor Frankls „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ zu lesen begonnen – beides sehr empfehlenswert. Ich danke der sdw für diese lehrreiche Veranstaltung und die inspirierenden Gespräche mit den anderen Teilnehmenden. Dieser Bericht soll die Lesenden dazu ermutigen, selbst ein Buch zur Aufarbeitung der NS-Zeit in die Hand zu nehmen oder bald wieder eine KZ-Gedenkstätte zu besuchen.“
Wir danken der Regionalgruppe München für die Organisation des Besuchs und dir, liebe Caroline, für diesen bewegenden Einblick in ein so wichtiges Thema!