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Gute Berufliche Orientierung in der Schule als Beitrag zur Chancengerechtigkeit

Ein Gespräch darüber, wie gute Berufsorientierung in Schulen gelingen kann.

  • Saskia Wittmer-Gerber, Bereichsleitung TransferLab der Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw), das von 2017-2020 im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit das bundesweite Vorhaben „Berufliche Orientierung wirksam begleiten" umsetzte. Die Unterrichtseinheiten finden seither Anwendung in den Schulen und wurden im Zuge der Corona-Pandemie auch für den digitalen Unterricht zu Hause angepasst.
  • Konrad Schaller, sdw-Alumnus, und Anne-Christin Zeng. Gemeinsam nahmen sie am Pilotjahrgang 2021/22 von „TaLea – Tandem Leadership for Learning“ teil - ein Förderprogramm für schulische Nachwuchsführungskräfte, das die sdw gemeinsam mit der Dieter Schwarz Stiftung durchführt. Am Berliner Carl-von-Ossietzky-Gymnasium unterrichten sie den Ergänzungskurs „Studium und Beruf“, in den auch die genannten Unterrichtseinheiten des Handbuchs „Berufliche Orientierung wirksam begleiten“ einfließen. Während der pandemiebedingten Schulschließungen dachten auch Anne & Konrad ihre Berufs- und Studienorientierungsformate digital. Die TaLea-Förderung nutzten sie zur Weiterentwicklung der entstandenen digitalen Formate: Berufeblog, App zum Studien- und Ausbildungs-ABC, Ausbildungspodcast und digitale Fragerunde „Schüler*innen fragen – Studierende antworten“. Für ihr Projekt „Digitale Berufsorientierung“ erhielten sie den Deutschen Lehrkräftepreis 2021 in der Kategorie „Unterricht innovativ“. Das Carl-von-Ossietzky-Gymnasium trägt überdies das Qualitätssiegel für exzellente berufliche Orientierung (2022-2026), dank des herausragenden Engagements des BO-Teams, einer tiefen Verankerung der BO-Arbeit im Schulprogramm, einer sehr guten Kommunikation aller Beteiligten sowie dem innovativen digitalen BO-Angebot.

 

sdw: Wie kann gute Berufsorientierung  gelingen? Was sind Erfolgsfaktoren?

Konrad: Es gibt drei grundlegende Fragen, die übrigens in eurem Handbuch stehen – Erstens: Was kann ich? Zweitens: Was gibt es? Drittens: Was möchte ich?

Anne ergänzt: Unsere Rolle als Lehrkraft ist dabei die Aktivierung der Schülerinnen und Schüler, sodass sie selbst den Fragen nachgehen können.

Saskia: Die drei genannten Fragen umschreiben gut, worauf es für mich ankommt – Persönlichkeitsentwicklung und Prozessbegleitung. BO ist ein essentieller Teil der Persönlichkeitsentwicklung und mehr als reine Informationsvermittlung: Jemand ist da und hilft, die Informationen auf den individuellen Orientierungsprozess zu übertragen, sodass jede/r etwas Eigenes daraus machen kann. Gute BO zeichnet zudem aus, dass es ein breites Netzwerk gibt, das Impulse und die Welt von draußen in die Schule bringt.

 

sdw: Warum liegt euch das Thema der Studien- und Berufsorientierung besonders am Herzen?

Anne: Ich kann da ganz persönliche Beweggründe nennen. In meiner eigenen Schulzeit gab es diese Form der Begleitmöglichkeiten überhaupt nicht, sodass ich nach dem Abitur erst einmal recht orientierungslos war und etwas ganz anderes studierte. Erst später bin ich dann zum Lehramt gekommen. Daher schätze ich es heute besonders, den Schülerinnen und Schülern so viel in diese Richtung geben zu können. Schön ist auch, dass ich dabei stets Neues lerne. Oft sagen Konrad und ich uns, dass wir gerne selbst nochmal an dieser Stelle der BO im Werdegang stehen wollten, weil wir jetzt gemeinsam mit den Jugendlichen entdecken, was es für vielfältige, tolle Möglichkeiten gibt!

Konrad: BO ist eine Art Konzentrat dessen, was wir als Lehrkräfte eh machen – Schülerinnen und Schüler intensiv begleiten & Zukunftsorientierung geben. Ich freue mich, als Lehrer nun an konkreter Stelle zurückgeben zu können, was ich als Stipendiat der sdw bekommen habe. Zwar wusste ich früh, dass ich Lehrer werden wollte, möchte aber behaupten, dass ich ohne das Stipendienprogramm nicht der Lehrer geworden wäre, der ich heute bin.

Saskia: Auch ich hätte mir zum Ende meiner Schulzeit Horizonterweiterung gewünscht, bzw. Unterstützungsangebote, zu dem was alles möglich ist.

 

sdw: Welche Rolle spielt die Lehrkraft im Berufsorientierungs-Prozess? Welche Kompetenzen sollte sie für die Funktion mitbringen? Was hilft, die Schülerinnen und Schüler bestmöglich zu begleiten?

Konrad: Die heutigen Schülerinnen und Schüler (bei uns in Pankow) kommen meist aus sehr behüteten Elternhäusern und hören dort oft Sätze wie: „Es reicht, wenn du am Ende glücklich wirst. Mehr wollen wir gar nicht.“ Oder „Wir vertrauen darauf, dass du schon das Richtige für dich finden wirst“. Das sind gut gemeinte Sätze, die aber ungewollt unter Druck setzen können. Die Kinder werden damit bei der BO letztlich allein gelassen.

Saskia: Mit dem Vorhaben „Berufliche Orientierung wirksam begleiten“ haben wir in den letzten Jahren zahlreiche Unterrichtsmaterialien entwickelt und Lehrkräfte und Berufsberatende fortgebildet. Meiner Meinung nach sollte eine gute Lehrkraft a.) den Horizont erweitern, b.) begeistern, c.) ermöglichen, d.) individuelle Orientierungsprozesse kompetent begleiten und immer interessiert bleiben, die Welt mit den Jugendlichen gemeinsam zu entdecken und selbst auch Neues dazu zu lernen.

Anne: Für mich merke ich, dass es gut für die Funktion ist, dass ich nicht immer Lehrerin war. Ich habe vorher „International Business“ studiert, dabei in einem Unternehmen gearbeitet und diverse Nebenjobs gemacht. Dadurch erhielt ich verschiedene Einblicke in die Berufswelt und fühle mich kompetent, die Jugendlichen an dieser Stelle zu beraten. Insofern halte ich es für sinnvoll, dass Lehrkräfte grundsätzlich auch praktische Berufserfahrungen außerhalb des Systems Schule sammeln, dass sie zwischendurch ruhig mal über den Tellerrand blicken und beweglich und offen bleiben.

Konrad: Ich würde auch sagen, dass die persönliche Biographie und das individuelle Engagement viel zu einer glaubwürdigen Beratung beitragen. Während meines sdw-Stipendiums gab mir der Austausch mit anderen Geförderten Einblicke in das Studium unterschiedlicher Fächer, wie bspw. Jura, BWL oder Medizin und ich bekam eine Idee davon, welche Tätigkeitsfelder es noch gibt. Über die sdw habe ich eine Ausbildung zum Glückslehrer gemacht, was auch in die Richtung von „Persönlichkeitsentwicklung“ geht, also Neigungen zu erkennen und Ideen zu stärken. Das alles trägt dazu bei, dass ich mich kompetent fühle, die Jugendlichen bei der BO authentisch unterstützen zu können.

Anne: Ich möchte hinzufügen, dass das Berliner Landeskonzept BO die Koordinator/innenstellen an Schulen ja verpflichtend vorsieht. Besonders schön ist, dass wir in Berlin den Ergänzungskurs „Studium und Beruf“ mit Drei-Stunden-Blöcken unterrichten können. So können wir wirklich in die Tiefe gehen und beispielsweise Unternehmensexkursionen durchführen. Gemeinsam profitierten Konrad und ich im letzten Jahr natürlich auch von der TaLea-Förderung der sdw. Meist geben wir als Lehrkräfte die Inputs. Hier erhielten wir wertvolle Inputs, Impulse und Inspirationen. Im Mittelpunkt standen die berufliche sowie die persönliche Weiterentwicklung.

Konrad: Apropos „offen bleiben“ – aus einem Vortrag von Prof. Michael Schratz im  TaLea-Programm habe ich den Vorsatz mitgenommen, pro Stunde mindestens eine Frage zu stellen, auf die ich selbst die Antwort noch nicht kenne. So kann ich einen von vielen möglichen Wegen mit den Jugendlichen gemeinsam erschließen.

 

sdw: Ziel des durch das sdw-TransferLab umgesetzten Vorhabens „Berufliche Orientierung wirksam begleiten“ ist es, das Zusammenspiel von Berufsberatenden der Agentur für Arbeit und der Lehrkräfte an den gymnasialen Oberstufen zu stärken, sodass sie die Aufgabe der Berufsorientierung gemeinsam gestalten. Wie wichtig ist für euch die Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und anderen Institutionen?

Anne & Konrad: Die Expertise von außen ist immens wichtig. Da gibt es zum Beispiel das Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT, in dem Schulen und Unternehmen vor Ort partnerschaftlich zusammenarbeiten, um Jugendlichen eine praxisnahe BO zu ermöglichen. Stiftungen und Verbände haben eine wichtige Breitenwirkung, können einen guten Querschnitt abbilden. Der Erfolg ist aber erfahrungsgemäß oft personengebunden. So sind wir mit einer Kollegin der PSW (Partner Schule Wirtschaft), Service- und Koordinierungsstelle für BO in Berlin, in regem Kontakt. Eine weitere hilfreiche Schnittstelle ist die Jugendberufsagentur. Wir arbeiten eng mit einer Beraterin von dort zusammen. Sie ist regelmäßig in der Schule und mit uns im Austausch. Sie kennt uns und unseren Bedarf und trägt die passenden Angebote schon gefiltert an uns heran. Sie organisiert in Absprache auch Unternehmensbesuche bspw. mit Bewerbungstrainings, die den Jugendlichen neue Erkenntnisse bringen.

 

sdw: Sowohl die Unterrichtseinheiten des Handbuchs als auch der Kurs „Studium und Beruf“ wurden während der pandemiebedingten Schulschließungen digitalisiert. Ist die Zukunft der BO an Schulen digital?

Anne & Konrad: Die digitalen Formate waren ja eigentlich aus der Not der Lockdowns heraus geboren. Heute halten wir gerne an diesen neu etablierten und schon bewährten Formaten fest und arbeiten sie aus. Dennoch sind die genannten Betriebsexkursionen, -praktika und konkreten Einblicke in Bewerbungsverfahren sinnvoll. Auch der direkte, persönliche Kontakt und Austausch der Schülerinnen und Schüler mit uns Lehrkräften sind in der Beratung kaum zu ersetzen. Insofern würden wir sagen, dass man für eine gute BO in der Schule analoge und digitale Möglichkeiten bestmöglich und wirksam miteinander verknüpfen und weiterentwickeln sollte.

 

sdw: Ausnahmsweise sind wir hier mal bei Wünsch dir was! – Was ist aus eurer Sicht notwendig, damit Schülerinnen und Schüler bei der Beruflichen Orientierung noch besser begleitet werden können?

Anne & Konrad: Wir wünschten uns kleinere Klassengrößen, bzw. einen besseren Betreuungsschlüssel, mehr Freiräume für die BO-Arbeit, sprich weniger andere Lehrstunden und vor allem weniger Verwaltungsarbeit, außerdem Unterrichtsverpflichtungen, für bessere Planbarkeit & deutliche Entwicklungsschritte.

Saskia: Ja, Berufs- und Studienorientierung sollte als wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeitsentwicklung gesehen werden, nicht als Add-On. In der Schule leistet sie einen wichtigen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit und sollte Pflichtfach sein.

Unser Methodenhandbuch ist ein wunderbares Begleitinstrument bei der BO in den gymnasialen Oberstufen. Ich wünsche mir, dass mehr Lehrkräfte mit den verschiedenen, sich bundesweit bewährten Modulen, weitergebildet werden. Die Konzepte dafür liegen schon vor. Denn noch ist es so, dass leider nicht alle Schulen so engagierte und kreative Lehrkräfte haben wie das Berliner Carl-von-Ossietzky-Gymnasium mit euch beiden, Anne & Konrad!

Konrad: Hierzu passt abschließend mein Motto, das tatsächlich auch einem sdw-Seminar entspringt und in unserem Büro an der Wand hängt: „Teamwork makes the dream work“. Denn nur miteinander gelingt uns die Erfüllung unserer Aufgabe so gut.

 

Vielen Dank für das Gespräch & so viel großartiges Engagement für gerechtere Bildungschancen!


Konrad Schaller und Anne-Christin Zeng
Foto: privat
Saskia Wittmer-Gerber
Foto: Rolf Schulten / sdw