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Barrieren abbauen – ein gerechtes Bildungssystem gestalten

von Jutta Allmendinger

Deutschland nutzt seine Potenziale nicht. Jedes Jahr verlässt ein Fünftel der Jugendlichen die Schule ohne beruflichen Abschluss und landet meist im Abseits. Unser Schulsystem lässt noch immer zu viele zurück und schafft einen hohen Sockel von Bildungsarmen. Unser Schulsystem ist nicht gerecht und macht zu viele Fehler in der Zuweisung von Schülern auf weiterführende Schulen. Bereits im Alter von neun oder zehn Jahren werden die Kinder je nach sozialer Schicht auf unterschiedliche Schulformen verteilt. Spätere Wechsel auf eine höhere Schule werden meist zu unüberwindbaren Hürden. Damit entscheidet die soziale Herkunft über Bildungschancen, nicht die erbrachte Leistung. So haben Kinder aus Akademikerfamilien bei gleicher Leistung eine vier Mal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als Kinder aus Arbeiterfamilien. Wie lässt sich dies mit unserer viel beschworenen Leistungsgesellschaft vereinbaren?

Wir müssen hier zügig gegensteuern, Barrieren beseitigen und ein Bildungssystem gestalten, das unseren Kindern gerecht wird.

Länger miteinander lernen

Nach Hunderten von Jahren läuft die »Pädagogik der Vielfalt« in Deutschland noch immer ins Leere. »In heterogenen Gruppen erfolgreich miteinander umgehen und miteinander handeln können«, so lautet eine von drei Schlüsselkompetenzen, die der OECD wichtig sind. Learning by doing, Lernen muss auf Erfahrung beruhen, so fasste es der einflussreiche amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey vor einem Jahrhundert zusammen.

Unser gegliedertes Schulsystem setzt dagegen auf Homogenität. Dabei zeigt der internationale Vergleich, dass Schulsysteme, die von der Mehrgliedrigkeit abgerückt sind und die Kinder länger gemeinsam unterrichten, Kindern aus weniger privilegierten Schichten bessere Bildungschancen geben. Kinder aus den privilegierten Schichten verlieren dadurch nichts, und besonders leistungsstarke Kinder werden auch hier angemessen gefordert. Warum ignorieren wir diesen Tatbestand? Warum wischen wir diese Erkenntnisse mit abschätzigen Begriffen wie Gleichmacherei und Einheitsschule vom Tisch? Längeres gemeinsames Lernen führt zu einem höheren Sockel an Bildung für alle. Und zu mehr gegenseitigem Respekt. Wie sollen Schüler lernen, Menschen aus anderen sozialen und kulturellen Gruppen anerkennend und respektvoll zu begegnen, wenn sie früh getrennt werden und ihnen dadurch andere Lebenswelten verschlossen bleiben?

Den Umgang mit Vielfalt nicht erlernen zu können und das Menschenrecht auf inklusives Lernen zu verweigern, das sind die zentralen Probleme unseres Schulsystems. Weitere kommen hinzu und sind aufs Engste damit verbunden: Die starke Prägung der Bildungschancen durch das Elternhaus führt zu Chancenungleichheit. Gleiche Leistungen führen nicht zu gleichen Chancen. Diese Benachteiligungen werden nicht ausgeglichen, sondern durch die unterschiedlichen Schulformen sogar noch verstärkt, wie die Untersuchungen von Jürgen Baumert zu den »differentiellen Entwicklungsmilieus« zeigten. Die frühe Trennung wirft lange Schatten auf den Lebensverlauf und lässt sich kaum noch korrigieren.

Wir müssen also Strukturen verändern. Wir müssen die Kinder länger gemeinsam lernen lassen, am besten bis zum Alter von sechzehn Jahren, wie es in vielen Ländern bereits erfolgreich praktiziert wird. Wir würden dadurch niemanden verlieren, aber viele gewinnen. Und unsere Potenziale heben. Um ein gutes Bildungssystem aufzubauen, müssen wir also auf Mehrgliedrigkeit verzichten. In den letzten Jahren hat sich in Deutschland bereits einiges getan, immerhin wurden Gemeinschaftsschulen, Sekundar- und Stadtteilschulen eingerichtet. Begehrte Abschlüsse wie das Abitur – und damit die Berechtigung zum Studium – erreicht man heute häufiger und auch über andere Wege als über das allgemeinbildende Gymnasium. Wir müssen hier konsequent weiterarbeiten und die Systemfrage nochmals stellen.

Mehr Zeit zum Lernen

Obwohl die Menschen bei guter Gesundheit immer älter werden, reduzieren wir den Anteil von Bildung an unserem Leben stetig. Die Schulzeit an Gymnasien haben wir von neun auf acht Jahre verkürzt, das sogenannte G8. Die Studiendauer wurde durch die Bachelor- und Masterstudiengänge verringert. Insgesamt wird die Zeit für Bildung im Leben also weiter sinken. Bildung besteht aber nicht allein aus Abschlüssen und kognitiven Kompetenzen. Bildung meint ebenso, dass unsere Jugend Verantwortung für das Gemeinwohl entwickelt, soziale Kompetenzen für ein respektvolles Miteinander, eine eigene Identität und viel Mut hat. Um diese Fähigkeiten zu erlernen, braucht es Zeit und Gelegenheit.

Daher müssen wir rascher als geplant mehr und qualitativ gute Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen aufbauen, die verpflichtend für alle sind und über ein pädagogisches Konzept verfügen, das die Vormittage und die Nachmittage didaktisch miteinander verbindet.

Wir dürfen die Möglichkeiten für ein Jahr im Ausland oder ein Freiwilliges Soziales Jahr nicht einschränken. Unsere Jugend braucht diese Erfahrungen, die aufgrund von G8 zurückgehen. Wir müssen auch über Umschulungen im positiven Wortsinn nachdenken, eine Zweit- und Drittausbildung aufbauen. Bei einem Arbeitsmarkt, der sich schneller denn je verändert, sollten wir an Bildungszeit nicht sparen.

Fertigkeiten und Fähigkeiten entfalten

Wir dürfen und müssen heute für ein langes Leben lernen. Das tun wir in der Schule, jedoch nicht nur dort. Auch die Familie, der Freundeskreis, die Sportvereine, die Jugendgruppen und die Medien sind wichtige Orte. Auf keinen Fall darf es dabei eine zu scharfe Arbeitsteilung geben nach dem Motto: Die Schule ist für die kognitiven Kompetenzen zuständig, alle außerschulischen Lernorte übernehmen den großen Rest. Leitwerte und Schlüsselkompetenzen kann man auf Grundlage eigener Erfahrung lehren. Und man kann sie miteinander erlernen.

Für den Unterricht heißt das: Verantwortung übertragen, eigenständige Projekte planen, Führung erproben, Selbstwirksamkeit, also eine positive Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit vermitteln. Für die Unterrichtsformen heißt das: Arbeit in gemischten Gruppen, gemeinschaftliches Lernen, Lernen mit Mentoren, Lernen in Projekten. Aus solchen Erfahrungen schöpfen Kinder die Anerkennung, die sie beflügelt.

Unterrichtsinhalte dürfen wir nicht zu früh verengen. Über ein langes Leben hinweg müssen wir immer wieder auf ihnen aufbauen können. Die Verwertbarkeit von Wissen und Können steht heute zu sehr im Vordergrund. Es muss uns gleichrangig auch darum gehen, Schüler so zu bilden, dass sie kritische, sozial- und verantwortungsbewusste Menschen werden.

Wir müssen auch die Aus- und Weiterbildung von Lehrern überdenken. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welch hohe Verantwortung sie tragen, brauchen sie die Unterstützung vieler. Lehrer müssen in der Lage sein, passgenau bei jedem Schüler anzusetzen. Dafür brauchen sie Wissen um die Bildungsverläufe der Kinder. Sie müssen die habituellen Voreinstellungen ihrer Schüler aufgreifen, um ihnen überhaupt Möglichkeiten eröffnen zu können. Wir brauchen eine Pädagogik, die mit Vielfalt zurechtkommt, mehr Förderangebote bereithält und auf den Einzelnen zugeschnittene Zielvorgaben erlaubt. Dafür müssen die Lehrkräfte besser aus- und weitergebildet werden. Über die Lehrkräfte erreichen neue Ansätze und Methoden die einzelnen Schulen und können dort verankert werden. Möchte man das deutsche Bildungssystem weiterentwickeln, ist die Lehrerbildung ein zentrales Handlungsfeld.

Mehr Autonomie für unsere Schulen

Wir müssen uns darüber verständigen, was Schüler können sollten. Wir brauchen Rahmenpläne, Maßstäbe oder Standards, ganz gleich wie wir das Ergebnis nennen. Sind diese gemeinsamen Richtlinien gefunden, brauchen Schulen aber größtmögliche Freiheit. Sie entwickeln einen eigenen Plan, der passgenau auf die soziale und regionale Situation der Schüler abgestimmt ist. Zum Plan gehört auch, welche Lehrer, Sozialarbeiter, Mentoren und ehrenamtlichen Helfer ausgewählt werden. Ziel ist es, ein belastbares Netz und starke personelle Brücken zwischen den Institutionen zu bauen und zu pflegen. Der Plan legt aber auch fest, welches Unterrichtsmaterial verwendet wird, wie die Unterrichtsstunden zugeschnitten sind, wie lange der Unterricht dauert, und beschreibt die Ferienangebote, die Elternarbeit und die Schularchitektur. Viele dieser Gestaltungsmöglichkeiten nutzen deutsche Schulen bereits.

Schauen wir nur auf die Schulen, die im Rahmen des Deutschen Schulpreises ausgezeichnet wurden. Diese Schulen verbindet die Selbstverpflichtung, die Mission und die Vision, mehr als nur kognitive Inhalte zu vermitteln. Sie stehen dafür, Vielfalt zu suchen und zu schätzen, den Jugendlichen Verantwortung zu übertragen und demokratisches Engagement zu fördern, die Eltern und die Bevölkerung mitzunehmen. Es sind Hauptschulen, Gesamtschulen und Gymnasien, in öffentlicher und in privater Trägerschaft. Sie liegen in sozialen Brennpunkten, in der Stadt wie auf dem Land. Sie finden sich in allen Bundesländern. Die Erfahrungen dieser Schulen müssen wir in die Fläche tragen und entsprechende Standards entwickeln.

Autonomie ist eine große Herausforderung. Die Schulleiter müssen entsprechend ausgebildet sein. Wir brauchen hier richtige Organisationstalente, deren erster Blick den Schülern gilt.

Mehr Geld für Bildung

Geld allein macht noch kein gutes Bildungssystem aus. Das zeigen einfache Vergleiche: Finnland gibt vom Primar- bis zum Tertiärbereich kaum mehr Geld aus als Deutschland. Trotzdem unterscheiden sich die Bildungsergebnisse erheblich. Denn Deutschland hält sich vor allem in den frühen Schuljahren stark zurück, wo für die Kinder ein kompensatorisches Lernen am nötigsten ist. Sind die Kinder dann auf die verschiedenen Schulformen verteilt, investiert unser Schulsystem mehr. In der Sekundarstufe II gibt Deutschland wesentlich mehr als Finnland aus. Wir müssen hier umsteuern und gerade die frühen Schuljahre stärker als bislang finanzieren. Wir müssen bis 2015 das selbst gesteckte Ziel erreichen, 10 Prozent des Bruttosozialprodukts in Bildung und Forschung zu investieren.

Wir müssen aber auch die Verteilung finanzieller Mittel über und innerhalb der Bundesländer überdenken. Je nach Standort benötigen die Schulen unterschiedlich viel Geld. Eine Brennpunktschule etwa muss viel stärker und intensiver mit den Schülern arbeiten als eine Schule in einem Stadtteil, wo sich eben auch die Eltern kümmern können. Sozialräumlich besonders geforderte Schulbezirke lassen sich mittlerweile sehr einfach identifizieren. Insgesamt müssen finanzschwache Bundesländer und Brennpunktschulen mehr Geld und damit einen größeren Gestaltungsrahmen erhalten. Zum Wohle unserer Kinder brauchen wir einen solidarischen Föderalismus.

Alle Akteure miteinander vernetzen

Strukturen, Inhalte, Zeit, Kreativität und Geld – mit diesen Elementen müssen wir eine Infrastruktur aufbauen, die mit gut qualifiziertem und gut bezahltem Personal unsere Kinder bildet. Eltern übernehmen dabei die wichtigste Rolle, Unterstützung muss ihnen daher sicher sein. Gerade Eltern aus sozial schwachen Schichten fehlen häufig die Nähe zum Schulsystem und das Wissen um seine Anforderungen – oder schlicht das Sprachvermögen. Sie sind mit eigenen Problemen stark überlastet. Dabei würden sie gern helfen. Wenn die Schule hier den Eltern entgegenkommt, gezielt den Austausch mit ihnen sucht, gemeinsame Aktivitäten organisiert und die Eltern bewusst einbezieht, kann Vertrauen entstehen, das auch Probleme überwinden hilft. Gelingende Schulen brauchen die Eltern.

Die vielen Akteure im Bildungsverlauf der Kinder müssen miteinander vernetzt werden, sodass wir mit langem Atem und viel Zeit die Kinder unterstützen und ihnen helfen können. Denn Kinder brauchen viele helfende Hände. Pädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen, Erzieher sollten über die Grenzen ihrer Professionen hinweg zusammenarbeiten. Wir brauchen auch Bildungsketten zwischen den Institutionen. Schulen sollten sich mit Jugendämtern, Jugendzentren und Jobcentern eng austauschen, um Warnsignale früh zu erkennen und rechtzeitig zu reagieren.

So lassen sich auch Hürden beim Übergang in die Ausbildung besser meistern. Arbeitgeber können sich vom Wissen und dem Engagement ihrer künftigen Auszubildenden überzeugen. Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund werden heute noch viel zu oft abgelehnt, auch wenn sie genauso gut qualifiziert sind wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Oft haben sie schlicht den falschen Namen. Arbeitgeber schließen hochqualifizierte Bewerber zugunsten der scheinbar bekannten, vertrauten und risikoarmen Köpfe aus. Doch dies schadet nicht nur den Betroffenen, sondern letztlich auch den Betrieben.

Programme, die eine Vernetzung der Akteure über Raum und Zeit ausdrücklich fördern, können hier vieles bewirken. Die Bundesregierung hat bereits viele solcher Programme aufgelegt. Viele Stiftungen engagieren sich und arbeiten zusammen für eine bessere Bildung unserer Kinder. In den Kommunen sind so Modellprojekte entstanden, in denen Gesundheitsdienste, Jugendhilfe, Schulen und Betriebe kooperieren. Diese Projekte gilt es, auszuwerten und weiterzuentwickeln. Wir müssen sie in die Fläche tragen und im Wege stehende rechtliche Hürden abbauen. In diesem Sinne müssen Bund, Länder und Gemeinden wieder direkt kooperieren dürfen. Das »Kooperationsverbot« muss auch für die Bildung fallen.

So kann es gelingen, mehr Kinder als bisher besser zu bilden. Reformpädagogische Ansätze werden greifen und dazu führen, dass unsere Gesellschaft allen eine Chance gibt und möglichst wenige Kinder zurücklässt. Die Umsetzung wird viel kosten. Doch der Ertrag wird hoch sein. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch was Glück und Zufriedenheit angeht.

Grundlage dieses Essays ist die folgende Publikation: Jutta Allmendinger (2012). Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden. München: Pantheon.